Einen solchen Ansturm hat das hiesige Guckloch-Kino noch nicht erlebt: Vor dem Eingang reichte die Schlange der Besucher noch kurz vor Filmbeginn bis auf die Straße hinaus! Und das für einen Film über den ältesten und bekanntesten Schwarzwälder Fernwanderweg: den seit der vorletzten Jahrhundertwende existierenden Westweg, erfunden und seit über 120 Jahren verlässlich markiert mit roter Raute vom Schwarzwaldverein und seinen ehrenamtlichen Wegwarten. Lag der Zuspruch des Films in Donaueschingen womöglich nur daran, dass am hiesigen Gymnasium alljährlich ein Projekt gestartet wird, bei welchem den Absolventen die – scheinbar gänzlich aus der Zeit gefallene – Bewältigung der 285 Kilometer von Pforzheim nach Basel mit einer Gesamtsteigung von 8.000 Höhenmetern per Pedes zugemutet wird? Oder ist der Film der Ettlinger Marco und Katrin Ruppert tatsächlich so „Großes Kino“, wie er allenthalben angekündigt und gepriesen wird?
Handelnde Personen sind im Film zwei Brüder, die Musiker Markus und Andy Fechner, wie der Nachspann verrät. Die greifen an idyllischen Rastpunkten und natürlich zu (im Zeitraffertempo gefilmten) Sonnenuntergängen jeweils zur Gitarre – nein, natürlich nicht nach Zupfgeigenhanselart wie in der Frühzeit der Wandervogelbewegung, sondern zur Begleitung selbstkomponierter, auf Englisch dargebotener Songs. Auch unterwegs werden die Beiden immer wieder von der Kamera erfasst – vorzugsweise aus der Vogelperspektive per Drohne. Seltsamerweise tragen sie, anders als klassische Höhenwegwanderer, ihr Gepäck nicht nur im Rucksack mit sich, sondern ziehen einachsige, luftbereifte Anhänger hinter sich her, wo doch die Gitarren (und die Ausrüstung des Kamerateams?) zusätzlich Platz benötigen. Mitunter werden aus der Froschperspektive die Wanderstiefel in Großformat gezeigt, etwa wenn knapp das Nest eines seltenen Bodenbrüters verfehlt wird oder wenn es durch Fels steil bergauf geht. Auf dem Feldberg trennen sich die beiden Brüder, denn hier gabelt sich der Westweg bekanntlich, der eine Ast führt über das Herzogenhorn, den Blößling und schließlich über den Dinkelberg, der andere über den Belchen, den Blauen und durchs Markgräflerland nach Basel. Erst kurz davor treffen die beiden Brüder wieder zusammen, und beim Schwenk über die Stadt greifen sie letztmalig in ihre Gitarren – und zaubern mit ihrem Song prompt zwei Jungfüchse als niedliche Zuhörer aus ihrem Bau hervor.
So raffiniert und trickreich arbeiten Tierfilmer heutzutage. Doch eben diese Schlussszene offenbart leider auch die Schwäche des Films: Die Rahmenhandlung mit den beiden Musikern will so gar nicht zusammenpassen mit dem Wandererlebnis, auch nicht angesichts der Fülle noch so brillant gefilmter Natur- und Landschaftsszenen. Nicht zuletzt die Makro-Aufnahmen seltenster Raritäten (wie der Felsenbiene oder dem Violetten Feuerfalter), aber auch die Nahaufnahmen von Wolf, Luchs und Gämse fesseln den Betrachter. Ausgerechnet auf der Sitzbank unter der roten Raute der Wegmarkierung balzt einer der letzten Auerhähne des Schwarzwalds. Und zuoberst in einer struppigen Tannenkrone erfasst die Kamera den Horst eines Rotmilans samt Nestlingen, sodass wir Zuschauer ganz nah mit dabei sind, wie der Altvogel bei einem heftigen Hagelschauer schützend die Schwingen über seine Jungen ausbreitet. Wie viel Sitzfleisch braucht ein Tierfilmer wohl, bis ihm solche Szenen gelingen? Den Rahmen einer Westweg-Tour sprengen sie allemal. Kreisende Milane über frisch gemähten Wiesen des Belchensüdhangs im Kleinen Wiesental lassen aus dem Off immerhin den Hinweis zu, dass diese Greifvogelart in Deutschland ja doch besonders geschützt werden muss, während sie andererseits durch Vogelschlag der Windräder am meisten bedroht erscheint. Ausgeblendet bleibt dabei freilich, dass eben hier, im Tal der Kleinen Wiese, derzeit eine besonders heftige Auseinandersetzung tobt um den Bau weiterer Windenergieanlagen.
Doch Konflikte bleiben im Film weithin ausgespart. Immerhin: am Beispiel der Kuckucksuhr, des wichtigsten Schwarzwälder Werbeträgers nebst dem Bollenhut, wird der Artenschwund thematisiert, denn in Natura lässt sich hier schon längst kein Kuckuck mehr hören. Die Szene mit dem rufenden Vogel musste daher umständehalber in die Rheinauen verlegt werden. Umso ausführlicher werden dafür andere Schwarzwälder Spezialitäten in Natur- und Kulturlandschaft präsentiert (auch wenn sie weit abseits des Westwegs aufgenommen werden mussten), so etwa die Glazialformen im Präger Kessel, zumal die äußerst seltenen Bewohner der dortigen Blockhalden. Auch das Prachtexemplar eines Badischen Riesenregenwurms (Lumbricus badensis) zoomt die Kamera herbei, ehe es sich, lang wie eine Ringelnatter, wieder in seine Erdröhre zurückzieht, um deren Eingang sodann sorgfältig mit Laub zu verschließen. Wanderern dürfte der exklusiv nur den Südschwarzwald bewohnende Wurm eher selten über den Weg kriechen.
So kommt es, dass der Guckloch-Besucher schließlich trotz aller Naturfilmbrillanz mit zwiespältigen Eindrücken entlassen wird. Irgendwie scheint ihm das eigentliche Erlebnis einer mehrtägigen Westwegwanderung doch ein bisschen zu kurz gekommen zu sein – mit all ihren euphorischen wie ermüdenden Phasen, mit ihren Wetterkapriolen, aber auch mit der Registrierung der Vorzüge wie der Auswüchse heutiger Kulturlandschaften, erst recht der ihr glücklicherweise noch verbliebenen Naturnähe.
Wolf Hockenjos, am 30.06.2023 per E-Mail
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